Wenn man nach dem aktuellen Lieblingsbuch gefragt wird, hat man zumeist schnell eine Antwort aus dem Stapel der in den vergangenen Monaten gelesenen Bücher parat. Schwieriger wird es hingegen, die eigene Lesehistorie oder Lesegewohnheiten zu hinterfragen, um hier zu Antworten zu gelangen (Welches ist das erste Buch, das man bewusst gelesen hat? Welches Buch möchte man unbedingt noch lesen, ist aber noch nicht dazu gekommen?).
Der Literaturblog Sätze & Schätze hat einmal zehn Fragen zu Büchern zusammengetragen, die teils gar nicht so einfach aus dem Stegreif zu beantworten sind – und damit viel Freude bereiten, einmal über das eigene Leseverhalten nachzudenken. Hier also die Fragen mit meinen Antworten:
1) Das erste Buch, das du bewusst gelesen hast?
Aus Erzählungen weiß ich, dass ich in später Kindheit einen Band mit Märchen der Brüder Grimm immer und immer wieder gelesen habe, doch bin ich mir nicht sicher, ob sich das Bewusstsein darüber allein aus dem Erzählten oder dem Erlebten speist. Deshalb ist für mich Stephen Kings Friedhof der Kuscheltiere das erste bewusst gelesene Buch. Es war der Übergang zwischen Kindheit und Jugend, und ich sollte das Buch eigentlich nicht lesen. Ich sei noch zu jung für diese Horrorgeschichte, meinten meine Eltern. Doch es hat mich einfach in den Bann gezogen – und auch für die eine oder andere schlaflose Nacht gesorgt.
2) Das Buch, das Deine Jugend begleitete?
Im Deutschunterricht unternahmen wir im Lehrplan einen Kurzausflug in das Absurde Theater und lasen – natürlich – Warten auf Godot von Samuel Beckett. Ich war von Beginn an fasziniert und habe es dutzende Male gelesen. Bis heute gehört es zu meinen absoluten Lieblingsbüchern.
3) Das Buch, das Dich zum Leser machte?
Bis heute ist Siegfried Lenz mein Lieblingsautor, weshalb ich ihm auch die Anerkennung zuschreiben würde, mich zum Leser gemacht zu haben. Durch den Erzählstil, das sprachliche Spiel und dieses zentrale, wichtige Thema der Nachkriegsliteratur hat Deutschstunde mich beim ersten Lesen begeistert und kann dies noch bis heute.
4) Das Buch, das Du am häufigsten gelesen hast?
Hier dürfte es sich um ein Kopf-an-Kopf-Rennen handeln zwischen Becketts Warten auf Godot sowie Goethes Faust. Selbstverständlich habe ich weder den ersten und erst recht nicht den zweiten Faust zunächst freiwillig gelesen, sondern als Schullektüre. Doch wusste Mephisto eine solche Faszination auf mich auszuüben, als Abbild der inneren menschlichen Zerrissenheit, als Spiegelbild der Versuchung, dass ich Faust I immer und immer wieder zur Hand genommen habe. (Hinzu kam eventuell auch noch eine sehr gute Benotung für eine Klassenarbeit zum Thema der Charakterisierung Mephistos.)
5) Das Buch, das Dir am wichtigsten ist?
Es ist gar nicht so einfach, zu sagen, wann ein Buch wichtig ist; und welches dieses Attribut besonders verdient. Deshalb nenne ich ein Buch, welches ich in meiner Kindheit oftmals vorgelesen bekam und auch heute regelmäßig hervornehme, um zum einen wieder ein Stück weit das Gefühl des Kindseins hervorzuholen; zum anderen, weil ich der Meinung bin, dass die Aussage des Buches, über das Wunder und den Sinn des Seins nachzudenken, niemals an Aktualität verlieren wird – insbesondere in schweren Zeiten, in denen manche Menschen meinen, ihr Sein sei wertvoller als das eines anderen. Deshalb ist mir Antoine de Saint-Exupérys Meisterwerk Der kleine Prinz am wichtigsten.
6) Das Buch, vor dem Du einen riesigen Respekt bzw. Bammel hast?
Ganz eindeutig: Unendlicher Spaß von David Foster Wallace. Ich habe das Buch mehrfach begonnen zu lesen, mehrfach gelesen. Allein der Umfang beeindruckt schon. Und ich bin bis heute nicht sicher, ob ich wirklich alle Zusammenhänge, alle Verweise, alle sprachlichen Kniffe verstanden habe.
7) Das Buch, das Deiner Meinung nach am meisten überschätzt wird?
Mit einer solchen Einschätzung habe ich ein wenig Probleme. Denn dieses Buch sollte zwei Kriterien erfüllen: 1) hochgejubelt worden sein; 2) mir absolut nicht zusagen. Ein aktuelles Buch, das beides zumindest im Ansatz erfüllt, ist Die Verteidigung des Paradieses von Thomas von Steinaecker. Das erste Kriterium erfüllt das Buch dadurch, dass es auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2016 stand. Das zweite Kriterium erfüllt es immerhin bedingt, zumindest zählt es zu den Büchern, von denen ich im Nachhinein am meisten enttäuscht war.
8) Das Buch, das Du unbedingt noch lesen willst – wenn da einmal Zeit wäre?
Eine genaue Begründung kann ich dafür nicht finden, aber sollte ich einmal viel Zeit haben, möchte ich Karl Marx‘ Das Kapital (alle Bände) lesen.
9) Das Buch, das Dir am meisten Angst macht?
Das Gefühl der Angst kann in Bezug auf ein Buch durchaus verschiedentlich ausgelegt werden, weshalb ich die Variante wähle, beim Lesen welchen Buches ich am meisten Angst empfand. (Denn ansonsten müsste ich wohl wieder Unendlicher Spaß anführen.) Deshalb ist es in meinem Fall Die Blutlinie von Cody McFadyen. Ich las das Buch in einem Urlaub, den ich mit einem Freund in Florida verbrachte. Wir hatten uns ein Haus gemietet. Ich saß abends auf der Veranda, er war unterwegs. Draußen hörte man größere Tiere durch den dunklen Garten streifen, in der Nachbarschaft wurden schon des Öfteren Alligatoren gesichtet. Es war eine fremde, unheimliche Atmosphäre, die mich immer wieder beim Lesen der brutalen Story hat aufschrecken lassen – ich kann mich an kein anderes Leseerlebnis erinnern, das mir eine solche Angst gemacht hat.
10) Das Buch, das Du gern selbst geschrieben hättest?
Einbruch der Wirklichkeit von Navid Kermani. Unabhängig von Kermanis scharfsinniger Beobachtungsgabe und dass er ein großartiger Schriftsteller ist, hätte ich gerne auch den Mut, all diesen Menschen mit ihren persönlichen Dramen und Schicksalsschlägen auf ihrem beschwerlichen Marsch in Richtung Sicherheit und Freiheit in die Augen zu schauen. (Ok, es gehören natürlich auch noch ein paar andere Umstände dazu, ein solches Unterfangen zu unternehmen.)
Oh, ich danke Dir für Deine zehn Antworten – ich finde das sehr interessant, insbesondere die Aussagen über die Bücher, die einen am Anfang der Leserbiographie prägten. Ich glaube, Godot war bei noch niemanden dabei. Das Buch, das Dir am meisten Angst machte, erinnert mich an eine ähnliche Situation: Ich las „Christine“ von Stephen King – tags drauf blieb mein Fiat Panda, an dem ich damals trotz seiner Macken festhielt, nächtens auf einer Landstraße mitten im Wald stehen. Ich glaube, ich habe noch nie solches Muffensausen gehabt 🙂
Liebe Grüße, Birgit
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Danke dir für die interessanten Fragen. Warten auf Godot klingt wahrscheinlich irgendwie strange – bis heute auch das einzige Theaterstück, das ich jemals auf der Bühne gesehen habe -, aber seitdem liebe ich Absurdes Theater. Es wäre auch für die dritte Frage durchaus passend als Antwort gewesen, deshalb ein für mich absolut prägendes Buch.
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