Botschaft der Hoffnung

OLYMPUS DIGITAL CAMERASprache soll ein verbindendes Element sein. „Chij-jjjj-tikeee, Zeejeeee, Chi-tjong-chii-tjoooong“. Sie kann wunderschön klingen – und doch zugleich trennend sein. Benötigen Menschen überhaupt eine gemeinsame Sprache, um sich zu verstehen? Vielleicht reicht es gar, den Lauten der anderen zu lauschen und die Kraft der Aussage zu spüren, statt sich in einem komplexen Kommunikationsregelsystem zu verlieren. Enrico Ianniello entführt in Das wundersame Leben des Isidoro Raggiola in eine herrlich-skurrile Geschichte über die Entstehung der Laute, Verständigung und Verstehen, aber auch über ungewöhnliche Freundschaften und herben Verlust.

Am Anfang der Schöpfung war der Laut, er war die Schöpfung selbst. Erst dann kam Gottes Wort, das bereits eine Erklärung der Schöpfung war. Als Ianniellos Ich-Erzähler Isidoro Raggiola auf die Welt kam, stieß er keinen Schrei aus, er weinte und brüllte nicht – er pfiff. Seinen Eltern, Vater Quirino und Mutter Stella, war bewusst, dass sie ein besonderes Kind hatten, doch es machte ihnen nichts aus, schließlich war in ihrem kleinen italienischen Bauerndorf Mattinella kaum etwas gewöhnlich. Trotzdem war es Isidoros kleines Paradies, in dem seine Mutter die weltbesten Pasta machte und sein Vater ihn mit seinen Wortschöpfungen („Nudellung“ für Nudelbestellung; „stichte Gedanken“ für stinkend und schlechte Gedanken; „Kuss“ als conexio zwischen Keks und Genuss) erheiterte sowie bescheuerten Angewohnheiten, wie dem allmorgendlichen „Eierbad“ (dem Reinigen des Intimbereichs). Das Pfeifen war Isidoros Leidenschaft. Und als er eines Tages bei einem Spaziergang an Zonzos Zoohandlung vorbeikam und den Beo Ali pfeifen hörte, imitierte er seine Laute und begann, sich mit dem Vogel zu unterhalten und sich seine Lebensgeschichte erzählen zu lassen: „Toll! wie schön das klang! Ich war ganz aufgeregt, das musste ich auch machen, und ich machte es.“ Von nun an entwickelte sich eine innige Freundschaft zwischen Beo und Jungen, der immer mehr die Energie des Pfeifens entdeckte.

„Redet miteinander. Egal, in welcher Sprache.“

Im Rahmen der Hochzeitsfeier seiner Eltern präsentierte Isidoro den Gästen eine gepfiffenen Laudatio. Und die Menschen waren begeistert. Sein Vater merkte schnell, dass das Können mehr Menschen zugänglich gemacht werden müsste und arrangierte ein gemeinsames Konzert mit seinem Gewerkschaftskollegen Nocella, der sogleich die Wirkung erkannte, die von der Darbietung Isidoros ausging. Diese könnte genutzt werden: für eine Revolution. Isidoro solle für soziale Gerechtigkeit pfeifen, er solle den Armen eine Botschaft überbringen, ihnen Hoffnung geben und die Sprache des Pfeifens beibringen, damit sie sich untereinander verständigen und gegen die Reichen und Mächtigen aufbegehren könnten.

Es ist eine kleine Hommage an George Orwell, der in 1984 bereits die Macht der Sprache darstellte und wie sie gebraucht – oder in Orwells Dystopie wohl eher missbraucht – werden kann, um die Kommunikation und das Handeln der Menschen zu kontrollieren und zu beeinflussen. Doch war Isidoro vielmehr der Heilsbringer der Unterdrückten und Mittellosen. Er gab den Menschen das Gefühl, vereint und stark zu sein. Er war ihr Messias im Kampf gegen die Eliten und den einengenden Kapitalismus.

„Pfeifen zu lernen ist der erste Schritt, um fliegen zu lernen“

Doch von einem Moment auf den nächsten wurde Isidoros heile Welt im italienischen Dorf zerstört: Bei einem Erdbeben starben seine Eltern. Er selbst wurde hingegen von Vögeln gerettet, die das Unheil kommen sahen und ihn von dem Tod bringenden Ort weglockten und abhielten, zurückzukehren, bevor die Katastrophe beendet war. Einzig sein Freund Ali, der Beo, den Isidoro umgehend aus seinem Käfig in der Zoohandlung befreite, war ihm im schwersten Moment seines Lebens geblieben. Es ist der Wendepunkt der Erzählung. Ein bedrückender Schleier legt sich über die zuvor humorvolle Geschichte. Der pfiffige, lebenslustige Isidoro wird in sich gekehrt und verliert im Moment der Trauer seine Sprache. Kein Wort kommt fortan mehr über seine Lippen. Einzig das Pfeifen bleibt ihm für eine sehr lange Zeit. Für Isidoro beginnt die Suche nach der eigenen Persönlichkeit und dem Weg zurück zum Glück – doch was bleibt, wenn man so gut wie alles verliert, das man liebte und das den Alltag bereicherte?

Enrico Ianniellos Erzählung Das wundersame Leben des Isidoro Raggiola ist erfrischend, skurril und poetisch, sie ist musikalisch wie der frühlingshafte Gesang eines Vogels. Er vollführt ein Spiel der schönen Worte und zeigt, dass Sprache mehr ist als bloßer Erzählrhythmus, sondern wahrhaftig Menschen begeistern kann.

„Ihr, liebe langweilige Nachmittage, seid die besten Freunde fantasievoller Kinder, ihr seid ein Geschenk, das es im Erwachsenenleben nicht mehr gibt. Eltern dürfen nicht vergessen, ihren Kindern dieses Geschenk zu machen, denn an einem langweiligen Nachmittag steht der größte Reichtum überhaupt zur Verfügung: Zeit.“

4 Kommentare zu “Botschaft der Hoffnung

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