Geschichte in ihrer Singularität begreifen

Wiederholt sich die Geschichte? Erleben wir 100 Jahre nach 1923 eine ähnliche Erosion der Demokratie? Sind die entscheidenden Faktoren zwischen den Jahren 1923 und 2023 überhaupt vergleichbar? Immer wieder werden medienwirksam Vergleiche zwischen den beiden Jahren gezogen. Und es ist durchaus möglich, die Jahre historisch miteinander zu vergleichen – aber es gibt auch wichtige Unterschiede. Ein Blick in „1923. Ein deutsches Trauma“ von Mark Jones ist eine hervorragende Grundlage, um die aktuelle Situation auch im historischen Kontext zu analysieren.

Das Jahr 1923 war in Deutschland geprägt von den Folgen des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik. Die politische Lage in Deutschland war instabil, die Wirtschaft schwach und die sozialen Spannungen groß. „In jenem Jahr stand das politische Schicksal Deutschlands auf Messers Schneide“, fasst Jones zusammen. Sowohl 1923 als auch 2023 könnten Zeiten politischer Unsicherheit sein. 1923 war die Weimarer Republik in Deutschland instabil und es gab politische Konflikte in anderen Teilen der Welt. 2023 könnten politische Konflikte, populistische Bewegungen und instabile Regierungen in verschiedenen Ländern und Regionen ein Thema sein. Von einem Auseinanderdriften der Gesellschaft sind wir heute jedoch weit entfernt – die „Mitte“ ist gefestigt, auch wenn die politischen Einstellungen ein breites Spektrum abdecken. Extreme wie 1923 sind eher Randerscheinungen.

Auch die wirtschaftlichen Probleme sind andere: Ruhrbesetzung, nationale Demütigung durch die Siegermächte und Massenarbeitslosigkeit finden sich in der heutigen Realität nicht wieder. Stattdessen leben wir in einer Zeit der europäischen Integration und historisch niedriger Arbeitslosigkeit. Jones beschreibt hinreichend das Finanzchaos von 1923, das in eine beispiellose Hyperinflation mündete. Demgegenüber liegt die aktuelle Inflationsrate mit sieben bis neun Prozent zwar deutlich über den Vergleichswerten vergangener Jahre, ist aber meilenweit von sozial zerrüttenden Zuständen entfernt.

„1923 war das Jahr der Nullen. So schwer es fallen mag, sie zu begreifen, ihre Bedeutung ist auf erschütternde Weise klar: In der zweiten Jahreshälfte wand sich die Weimarer Republik in den Krämpfen der schwersten Hyperinflation, die die Welt je gesehen hat. Geld, eines der wichtigsten Organisationsmittel menschlicher Interaktion, ein essenzielles Medium der menschlichen Kommunikation und ein Mittel, das das Selbstwertgefühl der Menschen und ihren Wert in Relation zu anderen prägt, hatte aufgehört zu funktionieren. Die Welt war buchstäblich auf den Kopf gestellt worden.“

Während der deutsche Staat 1923 vor dem Staatsbankrott stand, ist die Bundesrepublik heute eine der größten Wirtschaftsmächte der Welt. Die Bedeutung von Wohlstand für die Entwicklung einer Gesellschaft muss man sich immer wieder vor Augen führen, wenn man heutiges Regierungshandeln verstehen will. Denn ohne das Versprechen sozialer Sicherheit und eines sozialen Netzes verlieren die Menschen schneller das Vertrauen in den Staat und die Radikalisierung der Gesellschaft schreitet wesentlich schneller voran.

Die Weimarer Republik war geprägt von ständigen Regierungswechseln, sozialen Unruhen und einem drohenden Staatsstreich. Auch wenn die Rechten heutzutage einen ähnlichen Zustand herbeisehnen und herbeireden wollen, leben wir in einem gefestigten demokratischen System. Immerhin hat Deutschland gerade erst eine 16-jährige Kanzlerschaft hinter sich, was die Stabilität des Systems und der Gesellschaft unabhängig von der politischen Bewertung unterstreicht.

Dennoch macht Jones deutlich, dass das Bild der Zeit auch einigen Verzerrungen unterliegt. Bei allen negativen Erscheinungen dürfe die Stärke der damaligen Demokratie nicht vergessen werden: „Die Erfolge (…) erinnern daran, dass die Geschichte des Jahres 1923 nicht nur von Radikalisierung und Gewalt handelt; sie ist auch eine Geschichte des Sieges der deutschen Demokraten.“

Mark Jones zeichnet in „Ein deutsches Trauma“ ein Schicksalsjahr der deutschen Geschichte anhand elementarer Ereignisse detailstark nach. Er zeigt, wie alles mit allem zusammenhängt. Nicht zuletzt stellt er eine der beliebtesten Fragen der deutschen „Alternativgeschichte“: Wäre Hitler in eine vergleichbare Position gekommen, wenn die Randbedingungen sich verändert hätte? Wenn beispielsweise die Nachbarstaaten das Ruhrgebiet nicht besetzt hätten? Diese Frage gab der NS-Bewegung erheblichen Auftrieb. Schon damals war klar, dass Hitler die Geschichte und äußere Einflüsse nutzen wollte, um das Land nach seinen Vorstellungen umzugestalten.

Zugleich macht Jones deutlich, welche auf den ersten Blick unbedeutenden Ereignisse den Lauf der Geschichte entscheidend beeinflusst haben. Ein kaum beachtetes Beispiel: die Fahnenweihen der Nationalsozialisten. Hätte der Staat durchgegriffen, sie verboten – wie zwischenzeitlich sogar angeordnet – und das Verbot auch durchgesetzt, wäre der NS-Bewegung ein wesentliches Symbol des Antirepublikanischen abhanden gekommen. Hätten sie ohne solche symbolischen Aktionen trotzdem so viele Menschen begeistern und hinter ihrer Ideologie versammeln können?

Das Jahr 2023 wird weiterhin von Herausforderungen geprägt sein, aber es werden andere sein als 1923. Trotz dieser Unterschiede gibt es sicherlich einige interessante Parallelen zwischen den beiden Jahren. Sie können als Zeiten des Wandels und der Unsicherheit betrachtet werden. Es ist möglich, die Jahre 1923 und 2023 zu vergleichen, aber sie sind nicht vergleichbar. Es gibt sicherlich Lehren aus der Vergangenheit, die sich auf die Gegenwart und die Zukunft anwenden lassen. Die Herausforderungen sind jedoch vielfältiger. Gleichzeitig ist die deutsche Demokratie gefestigter. Mark Jones bietet in „1923. Ein deutsches Trauma“ eine detaillierte Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignisse in Deutschland. Jones macht deutlich, dass es viele Faktoren gibt, die den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte beeinflussen können, aber auch, dass die historischen und politischen Bedingungen heute anders sind. Jones betont insbesondere die Bedeutung von Toleranz und offener politischer Diskussion, um eine Wiederholung der Ereignisse von 1923 zu verhindern.

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