2024 0530 Homepage Rezension Raffael Scheck Fruehling 1940 Hoffmann Campe HoCa Buecherherbst Buecherblog bookstagram

Tiefe Einblicke in die Seele des Krieges

Anfang 1940 herrschte in Europa eine angespannte Ruhe. Der Blitzkrieg in Polen markierte den Beginn des Zweiten Weltkriegs, ohne dass es zunächst zu größeren Kampfhandlungen an der Westfront gekommen war. Die Alliierten, vor allem Frankreich und Großbritannien, verschanzten sich hinter der Maginot-Linie, während Deutschland seine Kräfte sammelte und sich strategisch auf den bevorstehenden Angriff vorbereitete. Im folgenden Westfeldzug besiegte Nazi-Deutschland Briten, Franzosen und Belgier durch eine Kombination aus Blitzkrieg, überraschender Mobilität und taktischer Flexibilität. Mit der Ardennenoffensive gelang es den deutschen Truppen, die gegnerischen Verteidigungslinien zu umgehen und einen entscheidenden Durchbruch zu erzielen.

Mit „Frühling 1940“ legt der Historiker Raffael Scheck eine detailreiche Darstellung des Westfeldzuges in den Monaten Mai und Juni vor, die weniger die militärische Seite beleuchtet, sondern vor allem die oft vernachlässigte Perspektive der betroffenen Zivilbevölkerung und der Soldaten einfängt. Anhand von zum Teil unveröffentlichten Berichten, Briefen und Tagebucheinträgen beleuchtet Scheck die Reaktionen und Erlebnisse der Menschen vor Ort in diesen Monaten des Chaos‘, der Angst und der Ungewissheit. Die Besetzung durch die deutschen Truppen führte zu Einschränkungen der persönlichen Freiheit, Zwangsarbeit und Unterdrückung, in einigen Fällen auch zu Kriegsverbrechen, die tiefe Traumata hinterließen.

Sowohl bei den Soldaten als auch bei der Zivilbevölkerung kamen immer häufiger Erinnerungen an den letzten Weltkrieg auf:

„Ein Schauer kommt einem, wenn man die Namen des Weltkrieges, die entsetzliche Blutmengen und einen Mythos der Furchtbarkeit bedeuten, nun wieder hört. Sie hört als Städte, die in deutscher Hand sind. Ob sie es wohl spüren, die toten Helden?“

Scheck zeigt eindrucksvoll, wie viele Akteure auf beiden Seiten unfreiwillig in den Krieg hineingezogen wurden. Diese persönlichen Geschichten machen das Buch zu mehr als einer historischen Abhandlung; es wird zu einer lebendigen Erzählung, die tiefe Einblicke in die menschliche Seite des Krieges gewährt.

Durchaus erstaunlich sind hingegen die Schilderungen der Reaktionen britischer und französischer Soldaten auf den Kriegsausbruch. Ihre Erleichterung über das Ende des eintönigen Wartens steht in krassem Gegensatz zu heutigen Vorstellungen in Anbetracht eines bevorstehenden Krieges.

Das Buch überrascht auch an anderer Stelle: Besonders unerwartet sind die Berichte über den teilweise freundlichen und hilfsbereiten Umgang der deutschen Wehrmacht mit den flüchtenden Menschen. Verblüffend ist ebenso das Verhältnis der alliierten Soldaten untereinander, die sich kaum trauten und sich gegenseitig die Schuld an den deutschen Erfolgen, insbesondere an der eigenen Niederlage bei Dünkirchen, zuschoben.

Ich bin ein absoluter Fan von erzählenden Sachbüchern, und auch hier sind solche Szenen immer wieder eingestreut. Wenn sie gut und nahbar geschrieben sind – und das ist bei Scheck der Fall – kann man intensiv in die Weltgeschichte eintauchen. Im Vergleich etwa zu Uwe Wittstocks „Marseille 1940“ erhält man allerdings nicht ganz so tiefe Einblicke in das Seelenleben der Menschen, da man sie kaum über einen längeren Zeitraum begleiten kann. Dafür bekommt man eine Vielzahl immer wieder neuer Perspektiven.

Für Leser:innen, die mehr über die quasi gleichzeitig stattfindende Besetzung Norwegens durch deutsche Nazi-Truppen im Frühling 1940 erfahren möchten, empfehlen sich Willy Brandts Kriegserinnerungen „Krieg in Norwegen“: Unverzichtbares Zeugnis einer düsteren Zeit

Scheck gelingt es, historische Ereignisse greifbar zu machen, ohne in eine trockene Aneinanderreihung von Fakten abzugleiten. Im Vordergrund der Schilderungen steht das emotionale und psychologische Erleben, nicht nur das äußere Geschehen. „Frühling 1940. Wie die Menschen in Europa den Westfeldzug erlebten“ besticht sowohl durch seine detaillierte historische Darstellung als auch durch seine menschlichen Einblicke. Leser:innen bieten sich hier ganz neue Eindrücke in die Geschichte des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht von Soldaten und Zivilbevölkerung.

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