Rezensionsexemplar: Andrej Nikolaidis – Der ungarische Satz
Wie viel Kraft kann in einem einzigen Satz stecken? Andrej Nikolaidis reizt das Spiel mit der Sprache, mit Satzbau und Interpunktion bis zur Indifferenz des Lesers aus. Mit Der ungarische Satz dehnt er den Kult um lange Sätze auf zu Beginn illusorisch erscheinende 120 Seiten – sein Buch besteht aus nur einem einzigen Satz. Das klingt abschreckend, doch nach wenigen Seiten spielt dies überhaupt keine Rolle mehr, zum einen, weil die eigene Wahrnehmung dem Verlangen nach einem Satzende widersteht, zum anderen, weil der Erzählrhythmus, angelehnt an eine Zugfahrt – und hier ist es eher eine Fahrt mit dem ICE, denn mit der Straßenbahn –, rasant und bewegend ist.
Nikolaidis erzählt von einem Mann, der sich auf eben jener Zugfahrt befindet, von Budapest nach Wien. Diese Strecke ist nicht willkürlich gewählt. Es ist die letzte Etappe, über die die in Ungarn gestrandeten und am Budapester Hauptbahnhof feststeckenden und von jeglicher staatlichen Hilfe abgeschnittenen Flüchtlinge 2015 weiter gen Westen und insbesondere nach Deutschland reisten. Denn Der ungarische Satz ist viel mehr als ein außergewöhnliches Spiel mit Sprache, das Buch ist auch ein aufrüttelnder Appell an die liberalen westlichen Wohlstandsgesellschaften, offene Gesellschaften zu bleiben und Menschen nicht nach ökonomischen Werten, sondern nach ihrer Hilfsbedürftigkeit zu beurteilen. Oder ganz einfach: Sie als Mensch anzusehen.