Europa am Scheideweg: Utopie oder Ruine?

Rezension: Robert Menasse – Die HauptstadtEuropäische Kommission EU Rezension Buecherherbst Buecherblog Menasse Hauptstadt

Robert Menasse Hauptstadt Rezension Buecherherbst Buecherblog Suhrkamp EU

(c) Suhrkamp

Wer Robert Menasse fragt, ob das Friedensprojekt Europa bereits gescheitert ist, erhält ein leidenschaftliches Plädoyer für den bürgerschaftlichen Umbau der Europäischen Union in ein Europa der Regionen. Die europäische Idee sei am Scheideweg. Doch es sei noch nicht zu spät, den richtigen Weg einzuschlagen, weg von nationalen Grenzen, weg vom Nationalismus der Staaten. Während im Osten Europas Rechtspopulisten das Wohl des eigenen Volkes über die Idee und das Recht der europäischen Partnerschaft stellen und beispielsweise bei der Flüchtlingsfrage jegliche Verantwortung für ein gemeinsames Handeln von sich weisen, ist in Frankreich eine rechte Präsidentschaftskandidatin nur knapp gescheitert, in Österreich zeichnet sich gar eine Regierungsbildung mit der nationalistischen FPÖ ab, die katalanischen Separatisten – sind es nun egoistische Nationalisten oder überzeugte Europäer? – wollen sich von Spanien loseisen. Doch was kann die Antwort der Proeuropäer und der EU sein, um die Bürger für eine tiefere europäische Integration zu begeistern? In dem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Werk Die Hauptstadt gibt Autor Robert Menasse zumindest eine Antwort, wie es nicht geht: Allein das Ansehen der europäischen Institutionen zu verbessern, wird nicht ausreichen.

Wenn Demenz und Tod verhinderten, dass noch jemand Auskunft geben und sich darin erinnern konnte, worum es eigentlich gegangen war und worum es immer noch ging – dann müssten eben Demente und Tote auftreten und dafür einstehen. Würden sie nicht Schrecken und Mitleid erregen und vielleicht Reinigung bewirken? Sogar Verstehen. Plötzlich versteht eine demente Gesellschaft, was sie hatte sein wollen, plötzlich erinnert sich ein todkranker Kontinent an die Medizin, die ihm Heilung versprochen, die er aber abgesetzt und vergessen hatte.

Brüssel ist eine Stadt in ständiger Hektik, depressiv und auszehrend, euphorisierend und hysterisch, mit dauerhaft erhöhtem Puls. Einst reichste Stadt der Welt (1914). Die Hauptstadt Belgiens ist zugleich die inoffizielle Hauptstadt Europas. Hier sitzen mit Europäischer Kommission, Europäischem Rat und EU-Rat die wichtigsten europäischen Institutionen neben dem Europäischen Parlament. Es ist schon irgendwie erstaunlich, dass es vor Die Hauptstadt bislang noch keinen Brüssel-Roman in der Tradition der Städte-Romane gab – obwohl es eigentlich viel mehr ist, nämlich ein leidenschaftlicher Europa-Roman. Dabei bietet die europäische Machtzentrale eine hervorragende Vorlage für mehr oder weniger fiktionale Intrigen und politische Affären. Menasse machte sich selbst für einen längeren Zeitraum ein Bild von dieser Machtblase.

Der österreichische Autor zeigt in einer Mischung aus Krimi und Politsatire die Verflechtungen ganz unterschiedlicher Handlungsstränge, die doch eng verbandelt sind: Kommissar Emile Brunfaut soll in einem Mordfall ermitteln, doch der Tote wurde unüblich schnell eingeäschert und der Fall hatte sich urplötzlich in Luft aufgelöst; der demente David de Vriend zieht in ein Altersheim, wo er nur noch auf den Tod wartet – doch dann soll er, der Jude, der sich als Kind von einem Deportationszug der Nazis retten konnte, darüber berichten, was er zu vergessen droht; und in Brüssel läuft ein Schwein durch die Straßen, das die Menschen aufschreckt.

Zentraler Erzählstrang ist das Innenleben der Europäischen Kommission, deren Mitarbeiter der Generaldirektion für Kultur das „Big Jubilee Project“ organisieren wollen, um den vermeintlichen Geburtstag der Kommission (es ist selbst den Mitarbeitern nicht klar, welches Datum die eigentliche Geburt der EU ist) zu feiern – immer mit der Absicht, das Ansehen der Kommission bei den Bürgern zu verbessern. Es soll dargestellt werden, dass sie nicht einzig „abstrakte Bürokratie“ oder „Apparat einer bloßen Wirtschaftspolitik“ sei, sondern eine „moralische Instanz“ zur Hüterin der Überwindung des Nationalsozialismus und des Nationalismus.

Fenia Xenopoulou, Leiterin der Generaldirektion, erhofft sich dadurch einen persönlichen Karrieresprung. Doch im Streben nach Anerkennung und Prestige sind die Feierlichkeiten von Beginn an zum Scheitern verurteilt: „Wer im Apparat der Europäischen Kommission Karriere machen wollte, musste Mobilité beweisen. (…) Also war sie in die Arche übersiedelt, mit dem Plan, hier erst recht ihre Mobilité unter Beweis zu stellen: indem sie sofort daranging, den nächsten Wechsel anzustreben, unter besonderer Berücksichtigung der Visibilité. Dies war für den Aufstieg im Apparat ebenso entscheidend: sichtbar zu sein, so zu arbeiten, dass man immer wieder auffiel.“ Allerdings sitzt wohl in jedem zweiten Büro ein aufstrebender Kommissionsmitarbeiter, der durch Mobilité und Visibilité hervorstechen möchte – und dadurch unabdingbar anderen Mitarbeitern einen Stock zwischen die Beine werfen muss. Am Ende verzweifeln Europas Bürokraten an der mangelhaften Bürokratie ihrer Vorgänger in der Nach-NS-Zeit.

Wenn Brüssel ein offenes Buch war, dann war es ein Comicband.

Robert Menasse schafft immer wieder den durchaus sportlichen Spagat zwischen Kritik an der Absurdität des EU-Handelns einerseits, beispielsweise der Unterwäsche-Verordnung („Sie lachte, riss eine Packung auf, breitete eine lange Unterhose vor ihm aus, strich über den Stoff, sagte: Bitte! Fassen Sie mal hin! Spüren Sie, wie weich und warm das ist? Das ist aus dem Fell von diesen Kaninchen gemacht, Angora, verstehen Sie? Aber aus Deutschland, das heißt: garantiert ohne Tierquälerei. Und sehen Sie hier, das Zertifikat: Die Wäsche entspricht auch schon der neuen EU-Richtlinie für Unterwäsche / Wie bitte? / Ja, Monsieur. Hat mich auch gewundert. Unlängst war der Vertreter da, hat uns das erklärt. Es geht um das Brennverhalten der Unterwäsche, das ist jetzt geregelt.“). Und andererseits: nachdrücklich zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, dass die EU-Staaten sich einem gemeinsamen Handeln verpflichten, da ansonsten ein Wettstreit der Staaten entstünde, der nur Verlierer hervorbringen würde („Wenn es einem dieser Länder gelang, einen substantiellen bilateralen Vertrag mit China abzuschließen, dann war es politisch gesehen eher unwahrscheinlich, dass die EU ein Verhandlungsmandat bekam. Und dann wird das große Stechen beginnen, ganz brutal, das Unterbieten, der Versuch, die Nachbarn auszubooten.“). Es ist zugleich Warnung vor als auch Kritik an den Rosinenpickern und den Nationalisten, die eine engere Integration ablehnen, bekämpfen und um jeden Preis verhindern wollen.

Was macht Europa also aus? Ist es nur eine Delle oder stehen wir kurz vor einer Zeitenwende, zurück zum egoistischen Nationaldenken? Das auf Ewigkeit angelegte Friedensprojekt Europa befindet sich fraglos in seiner schwersten Phase der Nachkriegszeit. Robert Menasse zeigt das schwerfällige Europa und lässt zugleich von einer progressiven Zukunft Europas träumen. Vollkommen zurecht wurde der Autor für Die Hauptstadt mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vielleicht nicht zwingend rein aus literarischen oder sprachlichen Gründen, sondern insbesondere weil er die Fahnen Europas trotz heftigem Gegenwind unerschrocken hochhält. Und dabei offeriert er einige Ideen, wie Europa weitergedacht werden könnte: durch eine „nachnationale Demokratie“, mehr Integration statt konkurrierender Staatenpolitik, eine Sozialunion „gleichberechtigter, souveräner Bürger“, eben ein Europa der Regionen.

– Buchinfos –

Robert Menasse – Die Hauptstadt
Suhrkamp
459 Seiten
ISBN: 978-3-518-42758-3

2 Kommentare zu “Europa am Scheideweg: Utopie oder Ruine?

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