Rezensionsexemplar: Hans Weinhengst – Turmstrasse 4
Verlage sind eigentlich nichts anderes als Schatzsucher: manche buddeln nach dem dicken Goldbrocken, andere sind eher an archäologischen Funden interessiert. Ein außergewöhnliches Fundstück zum Zustand des Proletariats in den 1920er und 30er Jahren ist Turmstrasse 4 von Hans Weinhengst, 1934 noch unter dem Originaltitel Turstrato 4 in Esperanto [mehr zur Sprache Esperanto am Textende] veröffentlicht, kürzlich bei edition atelier erstmals in deutscher Übersetzung publiziert.
Das Haus in der Turmstraße Nummer vier im Wiener Arbeiterbezirk ist ein „grauer, heruntergekommener Wohnklotz“, farblich undefinierbar widerwärtig mit verfallener Fassade – und zum Teil auch verfallenen Menschen. Mehr als 300 Bewohner nennen diese Hochhausbaracke ihr Zuhause. Eine Konstruktion, die dem „Streben nach Ausbeutung“ folgt. Kurz: Ein Arbeiterghetto mit Elend, Unfrieden und Auseinandersetzungen („Die Bewohner hatten sich an ein gewisses Maß an Aufregung und Tumult gewöhnt.“). Hierin wohnen auch Karl Weber und Martha Groner, die sich regelmäßig heimlich treffen. Karl lebt zusammen mit seinen Eltern, den drei Geschwistern sowie seinem Schwager und seinem Neffen; Martha mit ihrer Mutter sowie dem kriegsversehrten Vater, der aufgrund seiner ebenso kriegsversehrten Psyche teils vollkommen von Sinnen ist und auf seine Tochter wild einprügelt oder versucht, sie zu vergewaltigen. Was die meisten Bewohner in der Turmstraße eint, ist die Arbeitslosigkeit, die Ende der 1920er Jahre im Zuge der Weltwirtschaftskrise grassierte. Auch Karl ist seit geraumer Zeit auf der verzweifelten Suche nach einem Job.
Die Tage verstrichen einer wie der andere bei Familie Weber: freudlos und eintönig.
Als Marthas Vater verhaftet wird und wenig später in der Arrestzelle Selbstmord begeht, scheint der Weg frei für die Liebe zwischen Karl und Martha. Hoffnung hält Einkehr. Die Liebe gibt dem Leben einen Sinn. Es wird im Kleinen erträglicher und ist weniger vom alltäglichen Zwang geprägt. Zwischendurch versuchen sie, die Not des Alltagslebens ganz hinter sich zu lassen, entfliehen der Welt beim Waldspaziergang und vergessen das Elend, die Arbeitslosigkeit, den Verzicht. Zu dieser Zeit wollen sich viele Menschen lieber umbringen als ein Leben in Armut zu führen. Denn in der Hoffnungslosigkeit wird aus der Furcht vor dem Tod eine „tröstliche Hoffnung“. Doch zurück im Haus, zurück in der Realität, erleben Karl und Martha stets mit, welche Tragödien sich hier – als Spiegelbild für das gesamte Land – abspielen: „Die schönen Bilder des Tages verblassten in Karls Erinnerung und wieder erschien alles trostlos und deprimierend. Der gnadenlose graue Alltag lag ihm schwer auf der Brust.“ Die Arbeit spielt eine zentrale Rolle im Leben der Menschen, sie ist sinnstiftend. Wer seine Arbeit verliert, ist der „Schandfleck der Familie“. Nur wer eine Arbeitsstelle findet, kann es aus der Turmstraße schaffen, kann der Hoffnungslosigkeit entkommen. Das ist der Luxus des Proletariats in der Not dieser Zeit.
Viele Menschen zieht es weg aus der Enge des Landes. Manche wollen auswandern. Manche verdingen sich als Wanderarbeiter. Die Sehnsuchtsziele sind – aus heutiger Sicht muss man sagen: irritierenderweise – Afrika und die Sowjetunion. Verantwortlich für das Leid der Menschen sei der Kapitalismus, der die Krise heraufbeschworen habe. Sie sahen sich als „Opfer dieser unseligen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung“. Zudem verbarrikadierten sich die Reichen in ihrer Welt. Erst mit einigem zeitlich-historischen Abstand können wir heute wohl sagen: Die Menschen haben sich getäuscht. Die kapitalistische Demokratie ist wohl (vorerst) die einzige Gesellschaftsform, die es Menschen ermöglicht, frei und zumindest gesamtgesellschaftlich nicht von Armut bedroht zu leben. Die marode, morbide damalige Gesellschaft ist sicherlich einer der Gründe, warum insbesondere die Arbeiterklasse in den 1930er Jahren einer anderen Herrschaftsform verfallen konnte. Es war der Trugschluss des Versprechens auf ein Leben mit Arbeit und Wohlstand.
Er war invalide, und wer weiß, was er schon alles an körperlichen und seelischen Qualen durchgestanden hatte! Vermutlich war das, was die Mutter sagte, richtig: Sie wären eine glückliche Familie, wenn der unselige Krieg nicht alles kaputtgemacht hätte.
Diese Art von Zwischenkriegsliteratur mit ihrer harten Alltagsbeschreibung, die dank sprachlicher Kraft die Brutalität der Zeit widerspiegelt, ist ein zuvor kaum geborgener Schatz unermesslicher Reichtümer an Erzählungen und Darstellungen dieser von Mangel geprägten Jahre. So liegt auch Hans Weinhengst viel daran, Aufklärung zu leisten, wie er in Anmerkungen zu seinem Roman erläutert: „Ich schreibe nicht einfach, um zu schreiben, sondern um mit meinen bescheidenen Möglichkeiten aufzurütteln, die Welt vernünftiger und gerechter zu machen.“ Es ist ein unverstellter Blick, den Weinhengst mit Turmstrasse 4 auf die Wirren dieser Zeit wirft. Denn es ist auch ein teils autobiografischer Blick, so hatte Weinhengst selbst mit Arbeitslosigkeit und wenig Geld zu kämpfen.
Doch wie weit sind wir heute von den damaligen Zuständen entfernt? Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter, während sich ganze Gesellschaftsgruppen nicht beachtet oder abgehängt fühlen. Und klammert man Deutschland einmal aus, haben sowohl die Jugend als auch die Arbeiterklasse in vielen Ländern Europas keine besonders großen Hoffnungen an die Zukunft und müssen mit einer teils immensen Arbeitslosigkeit zurechtkommen. Aber selbst in Deutschland gibt es hunderttausende Menschen, die von Armut bedroht sind oder trotz Arbeit am (westlichen) finanziellen Existenzminimum leben. Man könnte fast das Gefühl bekommen, Turmstrasse 4 ist ein dystopisches Zukunftsbild unserer heutigen Gesellschaft. Doch zum Schluss hat Hans Weinhengst zumindest eine tröstliche Botschaft: Weder Geld noch Ansehen oder Arbeit sind das Glück des Lebens, sondern die Liebe zueinander.
In den Momenten der größten Niedergeschlagenheit klammerte sich Martha an die Vorstellung eines selbst herbeigeführten Abschieds aus dieser Welt als allerletzten Ausweg. Und je mehr sie sich damit beschäftigte, desto freundlicher erschien ihr der Tod, der für sie bald jeden Schrecken verlor. Es war schließlich völlig egal, ob sie dieses deprimierende Leben früher oder später verließ
Hans Weinhengst – Turmstrasse 4
(Aus dem Esperanto übersetzt von Christian Cimpa)
edition atelier
208 Seiten
ISBN 978-3-903005-35-8
Esperanto ist eine leicht erlernbare und neutrale Plansprache. Leicht, weil sie nicht die Schwierigkeiten natürlich gewachsener Sprachen wie zum Beispiel unregelmäßige Verben hat. Neutral, weil sie niemandem aufgrund seiner Muttersprache einen großen Vorteil gegenüber Anderssprachigen bietet. Seit der Veröffentlichung 1887 durch L.L. Zamenhof hat sich Esperanto zu einer internationalen, lebendigen Sprache mit einer aktiven Sprechergemeinschaft und einer eigenen Kultur entwickelt. (Quelle: www.esperanto.de)
Interessante Vorstellung. Ich bin vor vielen Jahren im Zusammenhang mit Johano Strasser mal über Esperanto gestolpert und war sehr verwundert. Dass es da einen noch nicht übersetzten Roman gab, spannend. Ich muss sagen, dass ich das Buch aufgrund seines schauderlichen Covers nicht näher angesehen habe. Das könnte sich jetzt ändern. Danke und Gruß!
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Das freut mich natürlich, falls du etwas mehr Lust auf das Buch bekommen hast. Es hat insgesamt eine etwas bedrückende Stimmung, aber ich kann es durchaus empfehlen.
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