– Rezensionsexemplar –
Als Mensch, der in ein vereintes Deutschland hineingeboren wurde oder zumindest die Zweistaatigkeit als Kind nur am Rande miterlebt hat und in einem Bewusstsein des Europas ohne Grenzen aufgewachsen ist, dieses im Alltag oder auch nur im Urlaub lebt, ist die Welt der deutschen Teilung kaum vorstellbar. Entgegengesetzte Ideologien, diametrale Ausrichtungen mit verfeindeten Verbündeten, eine Grenze, die zunächst nur patrouilliert, dann mit einer Mauer oder gar Panzern geschützt wurde – all das erscheint selbst beim Spaziergang entlang der (heute künstlerisch gestalteten) Berliner Mauer vollkommen irreal.
Andree Hesse versucht in Der Diversant, diesen Teil der deutschen Geschichte ein Stück greifbarer zu machen. Er erzählt die wahre Geschichte seines Onkels – so wird es zumindest in dem an die Geschichte anschließenden Epilog dargelegt -, der in den 1950er Jahren in der DDR aufwuchs. Es ist eine Zeit, in der der Zweite Weltkrieg erst wenige Jahre vorüber war, die meisten Menschen die Erinnerung daran verdrängen wollten und die beiden frisch gegründeten deutschen Staaten stellvertretend für die ideologischen Systeme um die Vormacht in der Mitte Europas rangen; die einen dem Kommunismus zugeneigt, die anderen der westlichen, marktwirtschaftlich geprägten Demokratie. Beide Gesellschaften waren noch jung und auf der Suche nach der eigenen Identität.
In der gleichen Phase befindet sich Meiner, der Ich-Erzähler. Während die Gesellschaft ihm keinen Halt gibt, versucht er seine Position im Leben zu finden. Die meisten Menschen in seiner Umgebung haben tiefe Wunden von den beiden Weltkriegen davongetragen, physisch oder mindestens psychisch. Da ist beispielsweise Bauer Grothe – bei ihm hütet Meiner als Zehnjähriger in den Ferien die Schafe -, der nur noch ein gesundes Bein hat, da ihm das andere zerschossen wurde; Meiners Opa wurde bereits im Ersten Weltkrieg durch ein Bajonett am Kinn verletzt; sein Vater erlitt im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront einen Kopfschuss, woraufhin ihm die Schädeldecke ersetzt werden musste und er dauerhaft halbseitig gelähmt ist.
In den letzten Tagen des Krieges kamen Flüchtlinge aus den Ostgebieten und wurden im Dorf untergebracht. Den meisten Leuten gefiel das nicht. Angeblich hatte niemand etwas gegen Flüchtlinge, im eigenen Haus aber wollte man sie nicht haben.
Die Gesellschaft, in der Meiner aufwächst, ist gezeichnet von den vergangenen Kämpfen um Europa. Auch die Kinder kamen somit vielfach in Berührung mit Elend und Tod – das Erleben der Gewalt als Umstand, der die eigene Charakterbildung überaus erschwert. Doch endet die Gewalt für Meiner mit Kriegsende nicht, er erlebt sie innerhalb der Familie weiter: In seiner Kindheit ist er ständigen Züchtigungen durch seinen Vater ausgesetzt. Zugleich verstärkt sich das unstete Leben dadurch, dass während des Krieges und in der Nachkriegszeit regelmäßig fremde Menschen bei ihm und seiner Familie einziehen, Flüchtlinge aus dem Osten oder Sudetendeutsche, für die ansonsten kein Wohnraum verfügbar ist. Und nicht zuletzt sucht sein Vater irgendwann Reißaus: „Die wichtigsten Dinge im Leben können sich so schlagartig verändern, dass man völlig überrumpelt ist und im ersten Moment wie gelähmt. Was an diesem Tag geschehen war, schien wie zufällig, aus einer flüchtigen Laune heraus geschehen zu sein. Doch das stimmte nicht. Ich wusste noch nicht viel, ich hatte keine Ahnung, wohin Vater wollte oder was er vorhatte.“ Zwar endet damit die Gewalt, doch zugleich verliert Meiner eine wesentliche Bezugsperson.
Nur wenige Jahre später muss Meiner einen weiteren Rückschlag hinnehmen: Seine Mutter lässt ihn im Stich, so dass er früh lernt, für sich selbst sorgen zu müssen. Das zwingt ihn, Geld zu verdienen, und so bricht er die Schule ab, um in den Buna-Werken in der Nähe seines Heimatortes Döllnitz zu arbeiten. Er hat von seinem bisherigen harten Leben zumindest mitgenommen, sich durchzusetzen. Vom Laufburschen arbeitet er sich schnell hoch zum Erntehelfer, aufgrund seines Fleißes wird er alsbald mit 16 Jahren bereits Kutscher. Es ist eigentlich eine für den kollektivierenden Realsozialismus eher ungewöhnliche Geschichte: Durch gute Arbeit und Fleiß kann der soziale und berufliche Aufstieg gelingen. Es war wohl der erst jungen Historie und noch nicht festgefahrenen Entwicklung des Staates geschuldet, denn des Staatssystems der DDR.
Währenddessen ist Meiner weiterhin auf der Suche nach seinem Platz in der Gesellschaft: Er spielt im Weihnachtschor mit, geht in den Turnverein, hilft beim Kegelverein, betätigt sich im Kanuverein sowie im Männergesangsverein und durfte gar mit zum Pionierlager in den Sommerferien: „Ich achtete darauf, nicht aus der Reihe zu tanzen und einen guten Eindruck zu hinterlassen. Doch während der ganzen Zeit wurde ich mein ungutes Gefühl nicht los, obwohl es niemand bestärkte. Die anderen behandelten mich wie einen der ihren, ich aber fühlte mich wie ein Fremdkörper.“ Nachdem Meiner aus gesundheitlichen Gründen mit der Arbeit pausieren musste, entscheidet er sich, einen neuen Weg einzuschlagen: Er wird Grenzpolizist. Bei der Ausbildung wird die krude Logik des Ostsystems so richtig offenkundig, verdeutlicht durch die Indoktrination der jungen Menschen bei den Schulungen: „Seit Jahren laufen die Bestrebungen der Westmächte, Westdeutschland in ein Aufmarschgebiet gegen die sozialistischen Staaten zu verwandeln. Die Wiederaufrüstung der westdeutschen Söldnerarmee wird unter den Bedingungen einer atomaren Kriegsführung vorangetrieben, die Aufweichtätigkeit mit allen Mitteln und in allen Formen gegen die Länder des sozialistischen Lagers betrieben. Die westdeutschen Revanchepolitiker scheuen nicht davor zurück, kriminelle Elemente gegen unsere friedliebende Bevölkerung als Diversanten und Saboteure einzusetzen.“ Der Hauptfeind war also klar benannt. Und dessen Strategie: Unterwanderung und Sabotage.
Es sei äußerst selten, betonte er, hier oben mit einem solch prächtigen Blick belohnt zu werden. Ringsum lag meterhoch der Schnee, auf dem Gipfel pfiff eisiger Wind, doch auf der westlichen Seite war es ruhiger, ein paar Flecken waren sogar schneefrei und die Sonne schien. Wir legten uns in einer Kuhle auf das blanke Heidekraut, ließen uns von der Sonne bescheinen und genossen die unendliche Aussicht gen Westen.
Doch auch der Dienst für sein Vaterland stellt Meiner nicht zufrieden („Den Dienst verrichtete ich mechanisch, egal, was ich tat, ich hatte kein Gefühl dafür.“). So wird er schneller zum Staatsfeind, als er sich selbst eingestanden hätte: Er desertiert nach Westdeutschland. Allerdings findet er dort ebenfalls nicht den Halt und einen Sinn für sein Leben, nach dem er suchte, und entscheidet sich in seinem jugendlichen Leichtsinn spontan, in seine ostdeutsche Heimat zurückzukehren – ein folgenschwerer Entschluss. Dies ist in einem Staat, der Grenzübertritte als Verrat ansieht, nämlich nicht so einfach. Von nun an gilt Meiner als Diversant, als Verräter am Volk und an der „wahren“ Ideologie. Es beginnt ein Martyrium aus Willkür und Terror.
Wirkungsvoll und zugleich beängstigend gibt Andree Hesse mit Der Diversant einen spannenden, düsteren Einblick in ein Kapitel deutscher Geschichte, das viel zu selten literarisch beleuchtet wird. Die unmittelbare Nachkriegszeit aus ostdeutscher Perspektive ist im Vergleich zur überdrüssig abgehandelten Nazizeit oder auch den späteren Jahren der DDR, insbesondere jenen rund um die Wende, ein unbedrucktes Blatt Papier. Hesse verzichtet – glücklicherweise – darauf, den Westen rein als Sehnsuchtsort und einzigen Ausweg aus der sich immer stärker abschottenden DDR darzustellen. Wer innerhalb des ostdeutschen Systems aufwuchs, konnte zumindest dann ein akzeptables Leben führen, wenn er nicht zu stark ausgeschert und vom Systemgedanken abgewichen ist. Der Bürger sollte sich in den Dienst des Staates stellen. Grauzonen gab es nicht. Und wer die Grenzen nicht einhielt, bekam die volle Härte, Unbarmherzigkeit und Unrechtsmäßigkeit des Systems zu spüren. Vielleicht ist auch deshalb so wenig über diese Zeit bekannt, weil analog zur Nazizeit nur wenige Menschen ihren Nachkommen hiervon erzählten, wie Hesse in dem das Gespräch zwischen Onkel und Neffe reflektierenden Epilog aufzeigt, worin der Ich-Erzähler ebenfalls hinterfragt, warum sein Onkel nicht früher – nicht einmal mit dem eigenen Bruder – über die Geschehnisse gesprochen hatte, sondern als Erstes mit ihm. Obgleich es teils ein spätes und zaghaftes Erzählen der Zeitzeugen ist, so hilft es den jüngeren Generationen, eine Vorstellung von den Verhältnissen und dem Leben in einem geteilten Deutschland sowie einem unterdrückerischen Staat zu erhalten.

(c) Berlin Verlag
– Rezensionsexemplar vom Berlin Verlag –
Andree Hesse – Der Diversant
Erschienen: 20. März 2017
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8270-1319-4