Peter Vorden betreibt im französischen Luxeuil-les-Bains gemeinsam mit George und Magali ein Restaurant, zumindest von Montag bis Donnerstag. Er ist finanziell unabhängig, weil er von seinem Stiefvater eine große Hinterlassenschaft geerbt hatte. Deshalb könnte er von Freitag bis Sonntag das Leben, das er in Deutschland verbringt, einfach genießen. Er könnte die Strapazen der Arbeitswelt hinter sich lassen. Doch er hilft stattdessen lieber seinem Zwillingsbruder Paul aus der Patsche. Dieser ist Schriftsteller, allerdings ein eher wenig erfolgreicher, da er kaum mit seiner Zeit und den Abgabeterminen zurecht kommt. Deshalb schreibt Peter Geschichten für ihn, erfolgreiche Geschichten („Mein richtiges Leben, das, in dem meine Fantasie und Erfahrung eine Rolle spielten, wartete am Wochenende auf mich.“). Thommie Bayer erzählt in seinem Roman Seltene Affären von zwei Menschen mit gleichen Interessen und gleicher Sozialisation, deren Lebensidee jedoch an einem Punkt im Leben auf einmal auseinander driftet und sie sich völlig unterschiedlich entwickeln: „Ich weiß nicht, wer von uns beiden zuerst die Idee hatte, Schriftsteller werden zu wollen, vielleicht Paul, vielleicht auch ich. Wir lasen, seit wir das konnten, ein Buch nach dem anderen. Wahllos und gierig. […] Und irgendwann fingen wir an, die Geschichten zu korrigieren, uns gegenseitig zu erklären, was wir anders gemacht hätten, was eigentlich hätte passieren müssen und wie man etwas besser hätte ausdrücken können. Paul blieb dabei, ich verzettelte mich, er schrieb und schrieb, und ich jobbte und reiste und kiffte und bildete mir ein, frei zu sein, weil ich wie ein Schaustellergehilfe lebte.“
Vielleicht ist es auch einfach Zufall, wohin das Leben einen Menschen führt. Manchmal spielt es gar keine Rolle, welche Vorhaben man hatte, welchen Weg man eingeschlagen hatte oder gehen wollte. Bereits nach der nächsten Kreuzung kann das Unheil warten, dem man nicht ausweichen kann. Oder ein großer Heißluftballon, der einen mit auf den Weg gen Himmel nimmt. Ein solcher Zufall ereignete sich auch in der Schulzeit der beiden Zwillinge: Paul schrieb sich während des Unterrichts mit einem Mädchen Briefe. Peter war stets Zwischenstation auf dem Weg. Als der Lehrer versuchte, sich heranzuschleichen, um den Briefverkehr zu beenden und Paul ein Stück weit zu demütigen, tauschte Peter beim Durchreichen unbemerkt den Liebesbrief gegen eine Kurzgeschichte aus. Diese musste Paul als Strafe zwar vor der ganzen Klasse vortragen, jedoch war der Lehrer so begeistert, dass er ihn über Maßen lobte – vielleicht war die kleine Episode bereits der Grundstein für seine Schriftstellerei. Das Motiv wird auch am Ende des Buches nochmals aufgegriffen: Durch einen Zufall ergibt sich ein unerwartetes Wiedersehen, wodurch unterschwellige Hoffnungen erfüllt werden und eine große Liebe wieder auflebt…
„Es gibt Momente, da ist mir nicht nach Reden und dessen Vermeidung jeden Umweg wert. […] Mag sein, dass mich das manchen Leuten unsympathisch macht, aber das ist eine Frage des Timings. Ich bin von Montag bis Donnerstag sympathisch und Freitag bis Sonntag eben nicht.“
Peter ist der Typ Lebemann mit Hang zum Playboy. Er hatte in seinem Leben nur eine große Liebe: die Jugendliebe seines Bruders, Anne. Vielleicht ist das der Grund, warum Peter nicht in der Lage ist, eine beständige Beziehung zu führen, sondern sein Glück immer wieder in Affären zu suchen. Doch selbstverständlich war Anne stets unerreichbar für ihn. Denn es war auch Pauls Traumfrau, die er lange nach der Trennung noch abgöttisch verehrte: „»Es gibt eine Liebe im Leben«, sagte Paul, »nur eine. Die kann man vielleicht splitten, sie auf die Kinder und vielleicht eine Katze oder einen Hund verteilen, aber du kannst sie nicht von einem Menschen abziehen und einem anderen zukommen lassen.«“
„Wenigstens vergaß ich vor lauter Fassungslosigkeit und Kopfschütteln die Musik in meinem Kopf.“
Ein weiterer Zufall ist Peters „Begegnung“ mit einer Frau, die er auf dem Heimweg auf einem Roller vor ihm herfahrend beobachtet. Plötzlich biegt sie auf sein Grundstück. Wie er feststellt, muss es sich um den Ersatz für seine Putzfrau handeln. Er scheut sich allerdings, ihr zu begegnen und fährt wieder davon. Doch das Erlebnis soll trotzdem sein Leben verändern. Regelmäßig träumt er von der Frau, die er zwar nie getroffen, von der er aber genaue Vorstellungen hat. Er vermutet, sie esse heimlich seine Schokolade, weshalb er sie auf die Probe stellt und von ihm geschriebene Texte drapiert – und sie scheint auch diese zu lesen. Doch ist es nicht nur Einbildung? Später führt er im Traum sogar ganz bewusste Dialoge mit ihr. Es ist das Begehren nach dem Unbekannten, es ist sein Trieb, der sich in einem Bild einer Frau manifestiert. Die Welt, die Erzählebene, zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmt mehr und mehr. Auch Navid Kermani hat aktuell einen Roman (Sozusagen Paris) geschrieben, der sich mit dieser literarischen Zwischenwelt beschäftigt und erklärte jüngst in der ZEIT diese „offene Grenze“: „Was Menschen träumen, kommt ihnen von jeher wirklicher vor als ein guter Teil des Alltags […]. Die Unsicherheit, ob etwas erlebt ist, ist der Literatur inhärent – ja, die Unsicherheit macht für mich Literatur gerade aus.“ Bayer bewegt sich also sowohl aktuell als auch historisch auf einem durchaus beliebten literarischen Feld, bereits in Romantik, Expressionismus und Surrealismus waren Träume ein bestimmendes Motiv.
„Nun ist das nicht schwer herauszufinden, man müsste schon in einer Höhle im Wald leben, um sich so etwas einbilden zu dürfen, aber was man fühlt und was man weiß, ist nicht dasselbe, wir neigen dazu, das Gefühlte höher zu bewerten. Und gefühlt war ich oft der einzige Mensch auf Erden.“
Thommie Bayer ist ein Meister der bildhaften, ruhigen Sprache, was er einmal mehr unter Beweis stellt („Irgendwann finde sich keine neue Abzweigung im Wegenetz der eigenen Fantasie mehr, und dann gebe es nur noch ausgetretene Pfade, und man sei erloschen.“). Er nimmt den Leser in Seltene Affären mit auf eine bittersüße Reise auf der Suche nach Liebe, Glück und Erfüllung.
„Wenn ein Mensch, der mich hasst, trotzdem freundlich zu mir ist, dann bleibt der Hass sein alleiniges Problem, er wird nicht auch noch zu meinem. Wenn er die Feindseligkeit nicht auslebt, dann richtet sie keinen Schaden an. Außer in seiner eigenen Seele.“